Neuer Dirigismus

Die öffentliche Diskussion über die Bildung der neuen Bundesregierung hat auch in der Dortmunder Stadtgesellschaft unzweifelhaft dazu geführt, dass das Interesse an politischen und gesellschaftlichen Diskussionen deutlich angestiegen ist. Dies war auch in dieser Woche anlässlich der Empfänge zum 100. Geburtstag des westfälischen Industrieclubs und beim Dortmunder Wirtschafts- und Unternehmerinnenpreis spürbar. 

Insbesondere der vom ehemaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement angeprangerte ausufernde "deutsche Dirigismus" wurde an diesen Abenden intensiv erörtert. Es ist in der Tat schon etwas skurril, dass ein ehemaliger Sozialdemokrat die deutsche Politik, die seit dreizehn Jahren von einer konservativen Kanzlerin verantwortet wird, als "dirigistisch" bezeichnet. Unabhängig von dieser verdrehten politischen Welt stellt sich jedoch die Frage, ob die "Dirigismus- Kritik" eigentlich berechtigt ist. 

In der Tat gibt es seit einigen Jahren eine anwachsende deutsche "Dirigismus-Kultur", aber eine andere als die, die Wolfgang Clement vermutlich im Sinn hatte. Die klassische Definition des Dirigismus ist die der staatlich gelenkten Wirtschaft. Die höchste Form des Dirigismus wurde in der sogenannten "Zentralverwaltungswirtschaft" der damaligen sozialistischen Staaten gesehen. Nun entdecken einige im Mindestlohn, in der Mietpreisbremse, in der Bankenregulierung und in der Energiewende genau diese dirigistische Grundauffassung wieder. Darüber mag man im Einzelnen streiten. Aber ausufernd sind diese Maßnahmen im Vergleich zur Gegenbewegung, zur Deregulierung der Infrastrukturmärkte, der Telekommunikation, des Postwesens, der Kapital- und Warenbewegungen im europäischen Binnenmarkt und der Auflösung der sogenannten Deutschland AG nun wahrlich nicht.

Bei genauer Betrachtung hat der deutsche Dirigismus nach den damaligen Festtagen der Deregulierung nun sein Gesicht, seine Erscheinungsform gewechselt. Gelenkt wird jetzt nicht mehr die Wirtschaft, sondern unser Privatleben. Wir erleben so etwas wie einen "öko-konservativen Privatdirigismus" der das Privateigentum schützt, aber das Privatleben überwachen und uns vorschreiben will, wie wir zu leben haben. Dieser Privatdirigismus reicht von der Vorratsdatenspeicherung, der Rasterfahndung, dem Rauchverbot in Kneipen über die Geschlechterfestlegung bei Ampelmännchen, Vorschriften für Essensgewohnheiten im Schulalltag, die Initiativen gegen den Verzehr von Fleisch und allen tierischen Produkten, den Konsumvorschriften für SGBII- Bedarfsgemeinschaften, bis zur Forderung nach einem Bundeswahrheitsministerium. Die Aufzählung ließe sich beliebig verlängern. 

Dieser Privatdirigismus, an den Wolfgang Clement bei seiner Festrede vielleicht nicht wirklich dachte, ist aber das eigentliche Problem der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung unserer Zeit. Er erzeugt eine durchgehende "Misstrauenskultur" gegen das individuelle Privatleben, die im scharfen und völlig unproduktiven Kontrast zu den Anforderungen an Selbstverantwortung und Selbstorganisation in unserem modernen Wirtschaftsleben steht. 

Leider wird diese Dirigismus-Kultur aber nur selten wirklich kritisiert, weil sie oft und gerne mit der Selbstgefälligkeit der hohen Moral, des guten und richtigen Lebens auftritt. Die eigentlichen staatlichen Aufgaben, wie die Investitionen in einen modernen öffentlichen Dienst, den Ausbau von Forschung, Innovation und guter Bildung sowie die Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols werden dabei jedoch sträflich vernachlässigt und als der eigentliche Dirigismus verunglimpft. Es ist diese Kombination aus laissez-faire und Privatdirigismus, die wir schleunigst überwinden sollten. 

 

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